Im Reich der Schäfin ist scheinbar alles ganz prima – das denkt zumindest das erzählende Kind im grandiosen Buch von Pija Lindenbaum Der erste Schritt. Die Schäfin sagt immer, was gemacht wird. Und das ist ja eigentlich ganz praktisch… Es gibt nur ein Verbot: Geht nicht über die weiße Linie!!! Die hat die Schäfin selbst gezeichnet rund um das Kinderdorf, und sie warnt vor großen Gefahren, sollte man sie übertreten. Und warum auch? Eigentlich geht es allen sehr gut – auch wenn es einer Gruppe deutlich besser geht als der anderen, wie man Stück für Stück enthüllt bekommt. Da die Erzählstimme aber zur privilegierten Gruppe Kinder gehört, ist für sie zunächst alles ganz klar. Während ihre Gruppe malt, spielt und schwimmen geht, müssen andere halt Kartoffeln schälen, Abwaschen oder Steine schleppen. Aber das ist ja eigentlich ganz logisch: Einer muss die Arbeit ja machen, oder?

Nach und nach beginnt die Hauptfigur jedoch die bestehenden Zustände zu hinterfragen. Eigentlich ist es blöd, dass alle den gleichen Haarschnitt von der Schäfin bekommen. Und eigentlich würde man ja nicht unbedingt immer eine Mittagsstunde machen wollen, wenn man gar nicht müde ist.

Und: dass immer die Anderen die Arbeit machen und nie mitspielen dürfen – ist das nicht irgendwie auch ungerecht?

So kommt es, dass eines Nachts die Gruppen Kleidung und damit die Rollen tauschen. Das ist der Beginn von zunehmender Unordnung und Eigenermächtigung der Kinder, die Schäfin wird verwirrt, ihre Autorität infrage gestellt. Schließlich kommt es dazu, dass beim Spiel der Ball aus Versehen über die weiße Linie geschossen wird: was tun??

Es braucht Mut für den ersten Schritt über die Linie, für das Hinterfragen der schäflichen Autorität, für eine eigenständiges Urteil und eine Entscheidung…

Pija Lindenbaum will nach eigenem Bekunden keine niedlichen Kinder zeichnen, und das tut sie in diesem Buch auch keineswegs. Zwar sind irgendwie alle gleich frisiert und ähnlich gekleidet, aber dennoch zeigt sie uns sehr vielfältige Charaktere. Deren Gesichter zeigen, dass auf die Herausforderungen sehr unterschiedlich reagiert wird. Nicht jede*r ist gleich mutig, positiv und eigenständig. Wie in jeder Gesellschaft, finden sich unterschiedliche Rollen und Reaktionen. Das Buch ist ein großartiger Gesprächsanlass zu Themen, die immer aber gerade auch aktuell wieder besonders drängend sind.

Dabei ist das Buch ein Beispiel dafür, dass Bilderbücher keineswegs nur etwas für Kindergartenkinder sind! Es kann zwar bereits ab 5 gelesen werden, ist aber bis in höhere Klassen super als Diskussionsanstoß geeignet. Demokratie vs. Autoritäres System, Zwei-Klassen vs. Gleichberechtigung, Freiheit, eigene Meinungsbildung, Hinterfragen von scheinbaren Gewissheiten, Mitbestimmung – ein Buch der Zeit! Für Ältere ist es dabei auch super kombinierbar mit Sachbüchern zum Thema Kinderrechte und Demokratie: