Ellen, Line und Konstantin waren eine harmonische Familie und die 15-jährige Ellen hatte alles, was sie wollte. Das Leben meinte es gut mit ihr. Bis zur Trennung der Eltern, nach der Ellen mit dem Vater in eine kleine Wohnung in ein neues, ärmliches Umfeld ziehen muss, Taschengeld gekürzt, Perspektiven gestutzt und Freunde (voraussichtlich) verloren. Ellen, die das alles nicht will und weiß, dass sie ihr bisheriges Leben, nur noch von der Seitenlinie aus verfolgen kann und vor allem der Mutter die Schuld gibt, tritt in lebenshungerstreik. Sie zieht sich zurück, wortlos, zwischen unausgepackten Umzugskartons im neuen Nicht-Zuhause.
Unfreiwillig auf neuen Wegen in der Stadt unterwegs fallen Ellen überraschend Gedichtfragmente ins Auge. An ungewöhnlichen Orten von ungenannten Autor:innen. Sie entdeckt Haikus auf Gullydeckeln und fühlt sich so sehr angesprochen, dass ein Hoffnungsfunke aufglüht.
Dann taucht eine Gedichtstrophe im Briefkasten auf – und der Verweis, bei den Nachbarn die anderen Strophen zu suchen. Wer sind die geheimnisvollen Urheber:innen? Was verbirgt sich dahinter? Diese Frage stellen sich auch andere im Haus, und so kommt es, dass Ellen die alte Frau Roosen und den 8-jährigen Paul kennenlernt. Sie stellt fest, dass sie mit ihnen die Neigung zu Poesie teilt und zum Schreiben teilt.
Gulligedichte, Briefkastenstrophen, Beete mit eingeharkten Versen, Pappschildhalter an Bushaltestellen, Portrait-Lyriker – in der Stadt entdeckt Ellen immer mehr Straßenpoesie und schließlich auch die Poet:innen selbst. Findet Gleichgesinnte und verliebt sich. Verliert sie wieder und möchte gefunden werden. Ampelpoesie mit Abreißzetteln: Treffpunkt lebenshungerstreik, Samstag 16:00.
Gemeinsam mit Gleichgesinnten merkt Ellen: irgendwann kann man die worte nicht mehr verstecken. Briefe an die Einsamkeiten (auf dem Friedhof), (Fahrrad)Lenkerworte, Gedichte zum Selberpflücken, Haikus im Glas eingelegt, ein Regenschirm-Chor, Papier-Gedankenflug und Kieselkunst. Komplimentebank.

Vergänglichkeit, Übersehbarkeit, das Konzept des Nicht-Gelesenwerdens, kein Applaus, keine Ironie – all das ist Straßenpoesie. Dieses ausgefallene Buch ist voll davon. Von poetischen Ideen und von freigiebigen Geschenken an die Welt. Was für tolle Poesie-Projekte!
Die fiktive Coming-Of-Age-Geschichte von Martin Gries zehrt von seiner jahrelangen Arbeit mit jugendlichen Straßenpoet:innen in Schleswig-Holstein, die viele dieser Ideen entwickelt und bereits selbst ausprobiert haben. Es enthält schöne Beispiele von zarter Poesie mit immer wieder inspirierenden Wortschöpfungen. So helfen Ellens neue Freund:innen und die Straßenpoesie ihr aus dem lebenshungerstreik. Sie werden umwegbegleiter, aufteufelkommherausforderung, abundzuversicht und schließlich problemlöslich. Sie helfen Ellen sich (neu) zu finden und sichtbar zu werden. Und sie machen jeden Tag ein bisschen poetischer. Auch für uns Lesende.
Das Buch wurde verlegt von lieferbar einem 2024 neugegründeten, solidarischen Kleinverlag mit einem besonders bemerkenswerten Konzept. Das Buch war 2023 auf der Shortlist des Vielfalter-Literaturpreises. 2025 hat es die Jugendjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert…

